transformare

2013 / Stellwerk Heerbrugg, CH

Abstraktion und Figuration

im Kontrast stehen geometrische Abstraktionen zu organischen Formen und Studien

Sie kann nicht untergehen

Im Frühjahr 2018 besuchte ich Maria Jansa mit zwei Freundinnen in ihrem Atelier in Fraxern. Auf einem weissen Podest in der Ecke des Wohnzimmers leuchtete die Figurine, um die es hier geht, im Sonnenlicht, das dort oben, wo Marias Haus steht, besonders ergiebig ist. Die Figur schien speziell für diesen Platz gemacht zu sein, deshalb kam ich zunächst nicht auf die Idee zu fragen, ob sie allenfalls verkäuflich wäre. Kurz bevor wir abfuhren, fragte ich doch noch und war erfreut, dass Maria bereit war, sie mir zu einem Freundschaftspreis zu überlassen. Allerdings mit der Auflage, irgendwann einen Text über die Figur zu schreiben. Erst danach, das war mir klar, würde sie endgültig in meinen Besitz übergehen.
Gewöhnlich liegt die Figur links von meinem Schreibtisch auf einem schmalen, niedrigen Regal, in dem Bücher untergebracht sind, die ich vorhabe, in nächster Zeit zu lesen. Im Zuge des Nachdenkens über den Inhalt dieses Textes, nahm ich die Figur öfter in die Hand. Sie ist kühl und schwerer, als ihr äusserer Anschein es vermuten lässt. Ausserdem gibt es eine ideale Art, sie zu halten. Der Daumen liegt dabei zwischen ihren Schenkeln, der Zeigefinger zwischen ihren Schulterblättern, Mittel- und Ringfinger umfassen Taille und Gesäss, der kleine Finger ruht in ihren Kniekehlen. Halte ich sie so, fällt es mir schwer, sie wieder loszulassen. Denn ähnlich wie für das Wohnzimmer in Fraxern, scheint sie für meine rechte Hand wie gemacht zu sein. Weiters gibt es drei Möglichkeiten, sie
in eine stabile Position zu bringen, wobei jede dieser Lagen paradoxerweise ein anderes labiles Gleichgewicht verkörpert.

Einmal ist sie gespannt wie eine Feder, einmal als wäre sie im Flug festgehalten, einmal bäumt sie sich auf, wie um gleich hochzuspringen. Nur in meiner Hand, ich kann es nicht anders sagen, kommt sie zur Ruhe.
Das war es, was ich über die Figurine, während ich sie beobachtete, hielt und über sie schrieb, erfuhr. Doch dabei blieb es nicht. Seit etwa zwei Wochen sehe ich noch etwas anderes, wenn ich sie betrachte. Dieser Eindruck hat etwas mit dem Ort zu tun, an dem ich Maria Jansa im November 2017 kennenlernte.
Wir gehörten beide einer Gruppe an, die Israel und das Westjordanland bereiste. Maria kannte die Gegend bereits, denn sie lebte in den 1970er-Jahren für einige Zeit in einem Kibbuz am Toten Meer. Auch unsere Gruppe fuhr von Ostjerusalem aus durch die Wüste hinunter zum tiefsten Punkt der Erde, und legte sich dort wie eine Horde Otter ins Salzwasser, um zu erleben, was es heisst, wirklich schwerelos zu sein. Es war der entspannteste Moment der Reise. Ansonsten gab es kaum Momente, in denen uns nicht bewusst war, dass der Friede, der gerade in der Region herrschte, wie immer gefährdet war. Betrachte ich jetzt die Figurine, dann sehe ich sie in ihren unterschiedlichen labilen Gleichgewichtszuständen im Wasser treiben. Und obwohl damit einerseits die Vorstellung verbunden ist, ich könnte sie verlieren, bin ich andererseits doch sicher, dass sie nicht untergehen kann.

Wolfgang Mörth, Oktober 2023